Schuld und Scham - 12 Heilungsprinzipien des NARM-Modells

Im Rahmen meiner Somatic Experiencing Fortbildung bin ich auf das Neuroaffektive Beziehungsmodell (NARM) gestoßen. Heute möchte ich dir ein Buch vorstellen, welches sich mit dem Thema Schuld und Scham befasst. Es zeigt Möglichkeiten, sich davon mithilfe dieses Modells zu befreien.
Sich von etwas zu befreien oder zu lösen, sind große Worte und weckt hohe Erwartungen. Ich bin da skeptisch. Aber wenn ich es als knappe Formulierung für einen sich in Bewegung setzenden Prozess begreife, so wie ich es auch manchmal für Workshop-Ankündigungen benutze, bin ich auch mit dem Titel des Buches einverstanden: Heller, Laurence & Doerne, Angelika: Befreiung von Schuld und Scham. Alte Überlebensstrategien auflösen und Lebenskraft gewinnen. Kösel-Verlag, München, 5. Auflage 2023.

Was sind Schuld und Scham?

Ein erster Teil des Buches legt zunächst dar, was Scham- und Schuldgefühle sind und welche Funktion sie haben. Dabei wird deutlich, dass es sich um soziale Gefühle handelt.  Also Gefühle, die das soziale Miteinander regeln. Sie haben Schutzfunktion für die Gemeinschaft und, da wir Menschen Bindungswesen sind, eine fundamentale Funktion für unser gemeinschaftliches und individuelles Überleben.

Was unterscheidet Schuld- von Schamgefühlen?

Schuld ist ein Gefühl, welches auftritt, wenn wir uns schuldig gemacht haben, z.B. jemanden verletzt haben. Schuld bezieht sich auf unser Verhalten. Scham hingegen tritt auf, wenn wir den Eindruck haben, nicht gut genug, oder nicht richtig zu sein. Scham bezieht sich auf uns als gesamte Person. Somit stellen Schamgefühle unser Recht auf Dasein infrage.
Wir brauchen Schuld- und Schamgefühle um respektvoll und aufrichtig mit uns selbst und anderen umzugehen. Ohne diese Gefühle wären wir Psychopathen.

Wie werden Schuld und Scham für uns giftig?

Wenn unsere Bindung gefährdet ist, wenden wir die Gefühle, wie Wut, welche zunächst nach außen gerichtet sind, gegen uns selbst. Solange sie lediglich unsere sozialen Aktionen regulieren erfüllen sie ihre Funktion. Giftig werden Schuld- und Schamgefühle, wenn wir darin verharren und uns andauernd selbst kritisieren und verurteilen. Wir haben dann z.B. Schwierigkeiten uns zu zeigen, wie wir sind, oder für uns einzustehen. Unser Verhalten ist dann geprägt von Perfektionismus und/oder Vermeidung. Wir haben beständig das Gefühl etwas ausgleichen, oder immer besser und besser werden zu müssen.

Wie entsteht Schuld und Scham?

Der zweite Teil des Buches zeigt die Entstehungsmechanismen für diese Gefühle auf. Die Autor*innen zeigen den wichtigen Zusammenhang von Bindung und Scham und die Bedeutung unserer Bedürfnisse bei der Entstehung von Scham. Einen Schwerpunkt legen die Autor*innen auf drei Entstehungsweisen von Scham, die zu folgenden Selbstannahmen führen können:
„Ich bin falsch.“
„Ich bin unfähig.“
„Ich bin schlecht.“
Im verkürzten Überblick liegt dieser Entwicklung zugrunde, dass es für uns als Kinder überlebenswichtig war, die Bindung zu unseren Eltern um jeden Preis aufrecht zu erhalten. Reißt der Kontakt, dann sterben wir. Dieses Wissen ist in jeder Zelle unseres Körpers verankert. Wenn ich als Baby oder Kind ein Bedürfnis äußere, welches nicht erfüllt wird, kann ich mein Drängeln, mein Laut werden, meine Wut nur bis zu einem gewissen Punkt nach außen, gegen die Eltern, richten. Wird das Bedürfnis weiter nicht beantwortet, dann würde ich die Beziehung gefährden. Da dies aber lebensbedrohlich wäre, habe ich keine andere Möglichkeit, als zu einer der oben genannten Selbstannahmen zu kommen und infolge dessen die unten beschriebenen Überlebensstile zu entwickeln. Mein Bedürfnis muss falsch sein, eventuell auch ich als ganze Person.

Weitere Aspekte bei der Entwicklung von Scham

Auch weitere Aspekte, die bei der Entwicklung von Scham eine Rolle spielen, werden beschrieben, u.a.: Missbrauch, transgenerationale Aspekte, Wechselwirkungen mit unserem Gehirn und unserem Nervensystem, Scham und Religion, Schuld als Ausdruck von Scham.

Die fünf NARM-Überlebensstile

In einem nächsten Kapitel werden die fünf NARM-Überlebensstile vorgestellt. Als Überlebensstil wird das beschrieben, was uns als Möglichkeit zur Verfügung steht, wenn wir in dem Dilemma stecken, ein Bedürfnis zu haben, welches nicht erfüllt oder zurückgewiesen wird. Diese Überlebensstile werden in anderen Kontexten auch als Glaubenssätze bezeichnet, oder in der Gestalttherapie als Introjekte. Im Buch werden im Kontext von Schuld und Scham folgende Sätze beschrieben:
„Ich bin nicht willkommen.“
„Ich bekomme nicht das, was ich brauche.“
„Ich vertraue niemandem.“
„Ich bin loyal und zuverlässig, indem ich mich zurücknehme und Konflikte vermeide.“
„Ich muss Leistung oder Attraktivität zeigen, um geliebt zu werden.“

Die 12 Heilungsprinzipien.

Teil 4 des Buches zeigt Prinzipien der Heilung und des Wachsens auf.
An dieser Stelle möchte ich sie lediglich benennen ohne näher darauf einzugehen. Die Heilungsprinzipien der NARM-Methode lauten:

  1. Willenskraft und Verstand alleine reichen nicht.
  2. Offenes, achtsames Erkunden.
  3. Verstehen, Selbstannahme und Selbstmitgefühl.
  4. Anerkennen unserer grundlegenden Natur.
  5. Gefühle und Empfindungen wollen etwas Wichtiges mitteilen.
  6. Die Fähigkeit entwickeln, unsere Bedürfnisse zuzulassen.
  7. Aggression als Lebensbejahende Kraft anerkennen.
  8. Dem eigenen Körper vertrauen.
  9. Kontakt vertrauen.
  10. Anerkennen einer Lebenskraft, die nach Verbindung strebt.
  11. Achtsames Gewahrsein zulassen und Vertrauen ins Hier und Jetzt.
  12. Identifikationen lösen und offene Fragen zulassen.

Fazit, Bewertung und eigene Erfahrung

Das Buch ist durchzogen von einer Vielzahl von Übungen und kurzen Anleitungen zur Selbsterkundung. Die Übungen waren für mich gute Gedankenexperimente und ich denke, man kann sie auch in Gruppen gut zur Stärkung des inneren Kontaktes einsetzen. Was das Buch natürlich nicht bieten kann ist das heilsame Erleben des Kontaktes eines einfühlsamen Gegenübers. Das kannst du verändern, indem du dir eine oder mehrere Personen suchst und Übungen aus dem Buch gemeinsam machst. Diesen Aspekt halte ich für wesentlich. Denn wir sind, wie oben gesagt, Bindungswesen und brauchen das Gesehen-werden durch ein einfühlsames Gegenüber.
Sehr anschaulich wird das Buch durch die darin beschriebenen Charaktere. Die Autoren haben acht Charaktere entwickelt, deren Geschichten und Entwicklungen beschrieben werden. Es gibt fiktive Therapiesitzungen mit möglichen Dialogen.
Hervorzuheben sind die detaillierten Beschreibungen der jeweiligen Überlebensstrukturen mit dem jeweils zugehörigen inneren Konflikten, spezifischen Scham- und Schuldgefühlen, Strategien, Bindungsmustern, typischen Symptomen und Körperstrukturen.
Vermisst habe ich eine größere Ausführlichkeit im vierten Teil. Das wirklich Neue an der NARM-Methode habe ich zumindest im Teil mit den Heilungsprinzipien nicht befriedigend gefunden. Aber vielleicht waren an der Stelle meine persönlichen Erwartungen zu hoch. Als Gestalttherapeutin, die ich bin, finde ich in den Prinzipien im Wesentlichen das wieder, was auch meinen persönlichen therapeutischen (Selbsterfahrungs-)Weg ausmacht: Viel Gestalttherapie (Ich und Du im Hier und Jetzt, Achtsamkeit, Aggression, als Lebenskraft), die Bindungstheorie (Bindung als überlebensnotwendige Kraft), einiges an Somatic Experiencing (Zusammenhänge der Emotionen mit Gehirn und Nervensystem, Verkörperung). Alles in Allem ist Befreiung von Scham und Schuld aber eine gute und gelungene Zusammenschau. Und es verschafft Überblick und viel Orientierung zum Thema Schuld und Scham.
Menschen, die mich kennen werden in dem Buch vielleicht einiges lesen, was sie aus Sitzungen mit mir oder aus persönlichen Kontakten kennen und eventuell einige neue Links und Verbindungen finden. Falls du das Buch liest oder gelesen hast, bin ich an deinen Erlebnissen damit brennend interessiert. Gerne hier in die Kommentare oder direkt an mich.

Ich wünsche dir ein feines, buntes und wildes Leben!
Herzlichst,
anne

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Anne Schricker | Heilpraktikerin für Psychotherapie / 040 31 81 43 23 / info@anne-schricker.de