Ich war doch dabei! - Erinnern wir uns richtig?

Zwei Artikel führen aktuell in meinem Freundes- und Kolleginnen-Kreis zu lebhaften Diskussionen: Der Artikel „Der Teufelskreis“ aus dem Spiegel (DER SPIEGEL Nr. 1 1/ 11.3.2023) und das Titelthema: „Die Erinnerung täuscht“ aus der aktuellen Zeit (30. März 2023 Die Zeit N° 14). Beide befassen sich unter anderem mit der Frage nach falschen Erinnerungen und mit unserer diesbezüglichen Manipulierbarkeit.

Worum es geht: Der Teufelskreis

Der Artikel Der Teufelskreis berichtet, dass es unter manchen Therapeutinnen, aber auch Opferschutzvereinen und Bistümern Überzeugungen von der Existenz ritualisierter Gewalt durch Satanisten gibt. Dabei nehmen diese Annahmen in einigen Fällen - unter anderem in dem im Artikel dargestellten - ein extremes Ausmaß an. Die nicht belegten Überzeugungen der Therapeuten und Berater können bei Betroffenen zu falschen, sogenannten induzierten Erinnerungen führen. Mit teilweise schwerwiegenden Folgen. Laut Spiegel berichtet eine Expertin der Sektenberatungsstelle Nordrhein-Westfahlen, dass jährlich etwa 20 Menschen in einer Therapie erfahren haben wollen Opfer ritualisierter Gewalt geworden zu sein. Der Verein False Memory Deutschland berät Menschen, „die von einem erwachsenen Familienmitglied aus dem Nichts des kultischen Missbrauchs beschuldigt wurden“ (DER SPIEGEL Nr 11/11.3.2023 S. 38).
Die Folgen, die falsche Erinnerungen haben, können fatal sein und die Betroffenen, sowie deren Umfeld in existentielle Krisen führen.
Der im Spiegel beschriebene extreme Fall führte für die Patientin und ihre Tochter zu großem Leid.
Neben dem, dass er die Frage aufwirft, ob ritualisierte Gewalt durch Satanisten wirklich existiert, stellt sich die Frage, wie es passieren kann, dass Menschen sich an Dinge erinnern, die offenbar nicht passiert sein können. Zu denken gibt ebenso die Frage, wie manipulierbar bzw. manipulationsfähig wir Menschen sind.

Wie kommt es zu falschen Erinnerungen?

Jede Sekunde stürmen tausende von Informationen auf unser Gehirn ein. Nur etwa 10 % davon nehmen wir bewusst war. Von diesem Bruchteil wird wiederum nur das gespeichert, was für uns von besonderem Interesse ist, z.B. weil es mit starken Emotionen verknüpft ist. Erinnerungen sind also eher Krümel als Kuchen. Den Kuchen bauen wir beim Abrufen der Informationen um die Krümel herum. Das Aussehen des Kuchens ist davon beeinflusst, wie uns Fragen gestellt werden. Bei einem Versuch der Psychologin Elizabeth Loftus konnte gezeigt werden, dass sich die geschätzte Geschwindigkeit eines Autos, welches auf ein anderes Auffuhr, aus der Erinnerung unterschiedlich geschätzt wurde, je nachdem wie die Forscherin die Frage stellte. Alle Probanden hatten zuvor das identische Video eines Auffahrunfalles gesehen. Fragte sie „Wie schnell war das Auto, als es in das andere Auto einschlug?“ schätzten die Augenzeugen eine signifikant höhere Geschwindigkeit, als wenn sie fragte „Wie schnell war das Auto, als es das andere berührte?“.
Auch andere Gedächtnisforscher, wie z.B. Ulric Neisser und Nicole Harsch, konnten belegen, dass sich unsere Erinnerungen über die Zeit verändern: „In der Forschung setzte sich mehr und mehr das Modell des „rekonstruktiven Gedächtnisses“ durch, eines Gedächtnisses also, das beim Erinnern keine exakte Wiedergabe eines Ereignisses abspielt, sondern nachträgliche Rekonstruktionen.“ (30. März 2023 Die Zeit N° 14, S. 16)

Was ist eine Scheinerinnerung?

Ein weiteres Phänomen ist, dass wir in der Lage sind uns Erzählungen, die wir hören, so bildhaft vorzustellen, dass sie als Scheinerinnerungen in unseren Datenspeicher geraten. In beiden Artikeln werden Fälle beschrieben in denen Menschen von Erinnerungen berichten, die offenbar aus Zeitungsartikeln oder Büchern konstruiert wurden oder die in einem Versuch bewusst suggeriert wurden (Elizabeth Loftus „Lost-in-the-Mall“-Experiment, 1995). Unser Gedächtnis kann also nicht immer unterscheiden, zwischen inneren Bildern und realen Erlebnissen. Auch ist es belegt, dass Imaginationen ähnlich stark auf uns wirken können, wie erlebte Erfahrungen. Eine Erklärung für transgenerationale Traumata beruht darauf, dass Erfahrungen naher Angehöriger ähnlich auf unseren Organismus wirken können, als hätten wir sie selbst erlebt. Dem heilsamen Anteil dieses Phänomens bedient sich hingegen die Hypnotherapie, die Pesso-Arbeit, bestimmte Formen des Familienstellens und andere imaginative Verfahren.

Wie können wir überprüfen, ob Erinnerungen, die in einer Therapie auftauchen, stimmen oder nicht?

Das ist in der Tat schwierig. Nur Beweise, wie bewertbare Fakten, Zeugen oder logische Zusammenhänge können Scheinerinnerungen enttarnen. Sind keine Beweise zu finden, ist es schwierig, weil sie ähnliche Gefühle erzeugen und weder detailreicher noch detailärmer sind, als echte Erinnerungen. Unsere kleinen grauen Zellen sind an dieser Stelle unzuverlässig. Und das was wir erinnern zu abhängig vom aktuellen Blickwinkel, Fragestellungen und der emotionalen Verfassung.

Was bedeutet das für die psychotherapeutische Arbeit?

Wir, Therapeutinnen, wie Klienten, müssen uns dessen bewusst sein. Das, was Klienten berichten für diesen Moment die eigene innere Wahrheit ist. Mit dieser können wir arbeiten. Mit den zugehörigen Emotionen, Körperempfindungen, Gedanken und Bildern. Wir können uns die Plastizität unseres Gehirns zu nutze machen. In der Psychotherapie haben wir die Möglichkeit neue neuronale Pfade zu bahnen. Für das aktuelle Leben im Hier und Heute.
Erlebnisse hinterlassen Spuren. Unter anderem im Nervensystem und im gesamten Körper. Mit diesen Spuren können wir ebenso arbeiten. Neue Wege und Lösungen entdecken, feststeckende zu hohe oder zu niedrige Erregungen im Nervensystem regulieren und entladen. Über Wahrheiten zu urteilen sollten wir Gerichten überlassen.

Solange wir leben können wir lernen

Die Artikel haben mich sehr zum Nachdenken gebracht und ich merke, dass ich noch vorsichtiger sein möchte mit eventuellen Rekonstruktionen und Deutungen bezogen auf die Vergangenheit von Klientinnen. Was wir erreichen möchten ist ein möglichst freies Leben mit flexiblem anpassungsfähigem Nervensystem, mit ausreichend gefühlter Sicherheit, um mit Neugierde ins Leben gehen zu können und es aktiv zu gestalten. Zugang zu eigenen Ressourcen finden. Gute Beziehungen leben. Und dazu gehört es auch zu wissen, dass wir nicht so viel wissen. Auszuhalten, dass manche Dinge der Vergangenheit vielleicht nicht abschließend aufklärbar sind. Was gewinnen wir? Die Freiheit zu sagen: Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit!

Welche Erfahrung hast du mit deinen Erinnerungen? Vielleicht möchtest du davon etwas im Kommentar teilen.

Du möchtest mich persönlich kennenlernen? Vereinbare einen Termin zu einem Vorgespräch mit mir.
Ich freue mich auf dich!

anne

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Anne Schricker | Heilpraktikerin für Psychotherapie / 040 31 81 43 23 / info@anne-schricker.de