In meinem letzten Blog habe ich beschrieben, wie man sich mit Hilfe einer anderen Person beruhigen kann. Menschen, die Grenzüberschreitungen erlebt haben, empfinden Körperkontakt aber nicht immer
als unterstützend. Berührung wird dann vom eigenen System als Bedrohung aufgefasst. Vielleicht kennst du das: Eine wirklich gute Freund*in umarmt dich und du merkst, wie du erstarrst. Meist ist
das eine instinktive Reaktion des Körpers auf gefühlte Bedrohung. Es passiert das Gegenteil von Hingabe. Die Möglichkeit in echten körperlichen Kontakt zu treten, ihn gar zu genießen, bleibt dir
verschlossen.
Der Blog-Artikel „Berührung in Krisenzeiten“ beschreibt anhand eines Fallbeispiels, wie über Körperkontakt das Nervensystem beruhigt werden kann. Welche Möglichkeiten aber habe ich als
Therapeutin mit Klient*innen, bei denen die körperliche Berührung nicht hilfreich ist?
Zunächst einmal: Berührung und Berührtsein findet auf vielen Ebenen statt. Ich kann berührt sein durch einen Gedanken, oder etwas was ich sehe. Worte können berühren. Oder Blicke. Berührung ist
in diesem Sinne ein in-Kontakt-treten. Das kann ein Kontakt mit einem inneren Gefühl sein, mit einer Körperempfindung, wie z.B. Anspannungs- oder Entspannungsgefühlen. Oder der Kontakt mit einem
anderen Menschen, einem Tier oder einer Situation.
Einen sicheren Raum zur Verfügung stellen: Der Kokon
In der Therapie sehe ich es als meine Aufgabe einen sicheren Raum zur Verfügung zu stellen und zu halten. Das heißt ganz Konkret meinen Kontakt anzubieten. Wir machen das automatisch mehr oder
weniger, wenn wir mit jemand anderem beisammen sind: Wir hören zu, melden zurück, was wir verstanden haben, oder fragen nach. Wir schwingen emotional mit. Tauschen Blicke. All das kreiert einen
gemeinsamen Raum: Aus dem Ich und Du wird zeitweise ein Wir. Wenn wir sehr aufeinander bezogen sind, kann der gemeinsame Raum so stark werden, dass er sich wie ein Kokon anfühlt. Die Welt außen
herum dreht sich ohne uns weiter. Wir sind in einem sicheren Miteinander.
In der Therapiestunde versuche ich einen solchen Kokon zur Verfügung zu stellen, oder besser gesagt: Ihn gemeinsam mit meiner/m Klient*in zu kreieren. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf mein
Gegenüber aus und achte dabei auf die Dosierung. Sie muss deutlich genug sein um ein Gefühl von gesehen-werden zu ermöglichen. Zugleich darf sie nicht so groß sein, dass sich die Person, wie
unter einem Mikroskop fühlt. Wichtig ist es dabei auch, sich nicht selbst aus dem Blick zu verlieren. Meist entsteht ein Pendeln meiner Aufmerksamkeit zwischen mir und meinen Klient*innen.
Das Spiel mit Nähe und Distanz - äußerer und innerer Rahmen
Der äußere Rahmen
In der Regel lasse ich meine Klient*innen ihren Platz wählen. Ich finde es wichtig, so viel Wahlmöglichkeit, wie möglich zu lassen: Wie weit weg möchte jemand sitzen? Sitzen wir einander
zugewandt, gegenüber oder nebeneinander und Blicken gemeinsam aus dem Fenster während wir sprechen? Wie oft, wie intensiv haben wir Blickkontakt?
Das sind Faktoren der äußeren Nähe.
Der innere Rahmen - die Sprache
Auf Ähnliches ist zu achten, wenn es um die innere Nähe geht: Wie detailliert frage ich nach? Wo gestatte ich es meinen Klient*innen zunächst im Unklaren zu bleiben? Dies ist ein Bereich, der
viel „Tastsinn“ erfordert. Frage ich zu wenig, könnte es desinteressiert wirken oder ich verstehe nicht gut genug. Frage ich zu viel, kann es sich zudringlich anfühlen.
Welche Ausdrücke benutze ich? In der Regel versuche ich in einem hohen Maße Worte meiner Klient*innen zu benutzen, denn deren Worte drücken meist genau das aus, wie es sich für sie anfühlt. Bei
Klient*innen, die ihre Gefühle noch nicht so einfach ausdrücken können, biete ich Worte an und gucke, ob sie aufgenommen oder verworfen werden. Manchmal entwickeln wir so einen gemeinsamen neuen
Wortschatz für die inneren Welten. Durch diese gemeinsame Sprache kommt ebenfalls eine innere Berührung zustande. Wenn jemand meine Sprache spricht, dann fühle ich mich eher gesehen und
verstanden.
Ausgehalten und gehalten werden
Zum Halten des gemeinsamen Raumes gehört es ebenfalls dazu, Gefühle des Gegenübers mit auszuhalten. Wenn jemand sehr traurig ist, dann haben wir häufig den Impuls, die Trauer des anderen
möglichst schnell weg machen zu wollen. Das kann z.B. dazu führen, dass wir einen Ratschlag geben, oder versuchen, die Stimmung durch ein Späßchen aufzulockern. Im Gegenüber entsteht dann aber
manchmal eher das Gefühl: Ich darf so nicht sein. Meine Gefühle sind hier nicht willkommen. Oder: Du hältst mich nicht aus.
Im therapeutischen Setting ist es also wichtig, Gefühle mit auszuhalten und mitfühlend zu sein.
Mitgefühl ist kein Mitleid
Dabei ist es wichtig nicht mitzuleiden. Wenn wir mitleiden, dann kann es uns passieren, dass wir den anderen klein machen: Ach du Ärmste! Oder, dass das Leid für uns so groß ist, dass die
Klient*in das Gefühl hat die Therapeutin trösten zu müssen.
Was ein Klient in Trauer braucht ist, Raum für diese Trauer zu haben. Und damit gesehen und gelassen zu werden: „Du bist sehr traurig. Ja. Da kann ich gut mitfühlen mit dir. Das ist auch sehr
traurig, was du da gerade erleben musst.“
Raum für Wut
Auch Wut muss gehalten werden können: „Oh, das hört sich richtig wütend an. Wie fühlt sich das an für dich?“ Dabei kann es auch passieren, dass die Wut einmal gegen mich gerichtet ist: „Ich
scheine dich wütend gemacht zu haben. Was ist denn da passiert?“
Es geht also darum nicht zurück zu weichen. Stehen zu bleiben. In Kontakt zu bleiben und gemeinsam zu versuchen zu verstehen. Vielleicht habe ich meine*n Klient*in aus versehen verletzt, mir ist
ein Fehler unterlaufen oder sie/er hat etwas missverstanden.
Bei allem Mitgeteilten geht es also darum den Raum zu halten, nachzufragen und nicht zurückzuweichen.
Wahrhaftig verstehen wollen
Und immer und immer wieder genau verstehen wollen. Wir Menschen sind Bindungswesen. Wir wollen uns verstehen. Das führt dazu, dass wir oft schnell sagen: „Ja, das kenne ich.“, ohne genau zu
überprüfen, ob wir wirklich richtig verstanden haben. Wir suchen nach Ähnlichkeit und natürlich finden wir sie. Aber habe ich damit wirklich aus den Augen meiner Klient*in gesehen? Oder habe ich
mir nur eine ähnlich aussehende Brille aufgesetzt und denke jetzt: Ah, ich weiß schon, wie das für dich ist.
Genau zuhören, eigenes automatisiertes „Ja“ hinterfragen. Mögliches Verstehen anbieten und vom Klienten bestätigen oder verwerfen lassen. Es geht um gemeinsames erforschen der inneren Welt.
Sachtes in-Kontakt-gehen mit dem eigenen Körper
Zu Beginn habe ich geschrieben, dass es für manche Personen schwierig ist, sich im Körperkontakt mit anderen zu entspannen und den Kontakt zu genießen. Meist ist dann auch der Kontakt mit dem
eigenen Körper erschwert. Es kann sein, dass es für dich nicht leicht ist, deinen Körper gut wahrzunehmen. Wie fühle ich mich eigentlich gerade? Ist mir warm oder kalt, habe ich Hunger oder
Durst? Gibt es Orte in meinem Körper, die sich fest, vielleicht sogar unbelebt, anfühlen? Bin ich eigentlich gerade im Stress?
Es ist möglich, dass du Teile deines Körpers nicht spüren kannst. Das hinlenken der Aufmerksamkeit dort hin, kann sich unangenehm anfühlen.
Wenn das so sein sollte, dann gib dir Zeit und erkunde dich immer nur soweit das ohne größeren inneren Stress möglich ist. Pendle immer wieder zurück zu Gefühlen des Wohlbefindens und der
Sicherheit. Gestatte dir Unaufmerksamkeit und Zerstreutheit, als Pausen zwischendurch.
Sichere Basis
Die Basis für diese Erkundungsgänge ist ausreichende Sicherheit. Nur, wenn es sich sicher genug anfühlt kann sich Neugierde entfalten. Das sieht man deutlich an Kindern. Wenn sich ein Kind sicher
fühlt, dann krabbelt es vom Schoß der Mutter oder des Vaters und erkundet das Umfeld. Immer, wenn es verunsichert ist, blickt es zurück zum Elternteil. Entdeckt es in dessen Augen Signale von
Zuversicht, so erkundet es weiter.
Ein großer Teil meiner Arbeit ist es also, Sicherheit zu geben, Vertrauen und Zuversicht. Genau verstehen wollen und immer wieder nachfragen und gemeinsam neugierig sein.
Findest du dich in dem Text wieder? Hast du Fragen oder Bemerkungen dazu? Ich lerne gerne gemeinsam mit dir weiter und freue mich auf deinen Kommentar.
Den Kontakt zu mir findest du hier:
Liebe Grüße,
anne
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Dor (Montag, 19 Dezember 2022 19:52)
Wie schön, hast du meine Frage aufgegriffen und in diesen wundervollen Abschnitt über die Berührung auf allen Ebenen eingewoben. Berührt werden als in-Kontakt-treten, ja das kann ich so bestätigen; egal auf welcher Ebenen, in welcher Art oder welchem Sinn.
Herzlichen Dank und einen beschaulichen Urlaub wünsch ich. Dor
anne schricker GESTALTTHERAPIE (Dienstag, 20 Dezember 2022 16:09)
Lieben Dank, Dor. War mir ein Vergnügen :-)
Herzliche Grüße,
anne