Eine Klientin sagte gestern zu mir: „Ich sehne mich wieder nach mehr Leichtigkeit!“
Oh, wie sehr ich sie verstehe. Mit ihren Worten ist auch in mir etwas berührt. Bei genauerer Betrachtung dessen wird mir klar, wie subtil die Pandemiesituation, unter der wir nun seit über
anderthalb Jahren leben, sich in unsere Psyche geschlichen hat. Wie eine kleine Grundmelodie, die uns beständig ins Ohr summt: Pass auf, sei vorsichtig, vielleicht lässt du dies oder jenes, oder
am besten das allermeiste, lieber sein…
Die lebensfrohe Haltung in der Gestalttherapie
Die Gestalttherapie habe ich immer erlebt als etwas, was uns hinaus streben lässt in die Welt, eigene Grenzen erweitert, uns explorieren und experimentieren lässt. Eine sehr lebensfrohe Haltung: Kleine Risiken eingehen, Dinge ausprobieren, die wir noch nie gemacht haben, Sätze wie „das kann ich nicht“ oder „das darf ich nicht“ hinterfragen. Wie liebe ich diese Haltung, zu erforschen und immer weiter, noch ein Schrittchen mehr zu wagen. Neues zu erleben, die neuen Erfahrungen genau zu betrachten, zu schmecken, sich ganz fühlen zu lassen. Eine eigene Bewertung dafür finden, jenseits dessen, wie wir es gelernt haben. Es ist eine sehr freiheitliche Methode.
Der Sicherheit gebende Blick von Mutter und Vater
Zurückzufinden zu der Zeit als wir ganz klein waren und neugierig auf die Welt. Das Baby, das los krabbelt, glucksend vor Freude. Der ganze, kleine Körper drückt diese Entdeckerfreude aus. Das Gesichtchen leuchtet, die Augen blitzen. Ab und zu ein rückversichernder Blick zur Mutter oder dem Vater. Bin ich sicher? Ist das ok? Und wenn ein Lächeln kommt: weiterkrabbeln, weiter entdecken. Wow, was wohl hinter der nächsten Ecke sein wird? Was für eine aufregende Zeit. Wie leicht und lebendig!
Schier unaushaltbares Nicht-Wissen in der Pandemie
Die letzten anderthalb Jahre haben uns eine andere Haltung gelehrt. Plötzlich diese Gefahr, die uns alle erschreckt hat. Dieses schier unaushaltbare Nicht-Wissen. Dann bröckchenweise Erkenntnisse. Ein paar Tage später neuere Erkenntnisse, die die alten manchmal als falsch zeigten. Viel Verunsicherung und viel Angst. Mit der ein jedes von uns einen eigenen Umgang finden musste und noch immer muss. Das sind wirklich große Herausforderungen für uns als Einzelne und als Gemeinschaft. Jeden Tag müssen wir Entscheidungen treffen und für uns bestimmen, was wir für richtig oder falsch für angemessen oder nicht halten - für uns selbst, für uns als Gemeinschaft. Was für eine Herausforderung.
Es geht um richtig und falsch
Wir alle strengen uns an, Wege durch diese neue Landschaft zu finden. Und wir schicken uns an, die Wege der anderen zu betrachten und einzuordnen. Das erfordert viel Kraft. Vor allem, wenn wir
aushalten müssen, dass andere es anders machen, andere Meinungen und Haltungen haben.
Es geht also viel um richtig und falsch. Um gesetzliche und moralische Gebote und Verbote.
Die These: Gruppe ist Mutter
Was macht das mit uns? Gruppe ist Mutter. So eine These. Wie geht es mir, wenn der rückversichernde Blick zur Mutter mich darin keine Zuversicht lesen lässt? Wenn unser soziales Umfeld über so
einen langen Zeitraum Unsicherheit ausstrahlt?
Wohin geht dann die Lebendigkeit? Meine Lebenslust?
Wir haben eine schwierige Situation. Und auch wenn wir es uns noch so sehr wünschen wird es keine einfachen Lösungen geben. Schritt für Schritt müssen wir weiter als Individuen und als
Gesellschaft Wege bahnen durch dieses unsichere Land.
Wie lebst du Lebendigkeit in dieser Zeit?
Ich denke, wir sind alle vorsichtiger geworden. Und ich halte das heute in diesem Moment auch für angemessen. Und trotzdem die Frage: Wie lebe ich Lebendigkeit in dieser Zeit?
Vielleicht geht es auch hier darum etwas neu zu erfinden?
Viele unserer Impulse müssen wir im Moment bremsen: Kultur? Nur unter bestimmten Bedingungen! Reisen? Besser nicht! Essen gehen? Hm…
Mit einem kleinen Risiko zur ersehnten Leichtigkeit
Und doch habe ich heute ein kleines Risiko begangen: Eine Bekannte hat etwas gemacht, was mich furchtbar aufgebracht hat. Soll ich schimpfen, toben, wüten? Mich rächen? Etwas Gemeines tun? Am
liebsten täte ich es, denn ich fühle mich bedroht.
Ich weiß, der bessere Weg wäre es, einfach mit ihr zu sprechen. Sie zu bitten mir in einem Punkt entgegen zu kommen. Zu versuchen ihr Motiv zu verstehen. Mein Anliegen zu erklären und ihr zu
sagen, wie ich mich fühle mit dem, was sie gemacht hat.
Die Aufregung steigt. Es macht mir Angst, sie anzusprechen, mich mit ihr auseinanderzusetzen. Vielleicht nicht verstanden zu werden. Vielleicht werden wir uns furchtbar streiten und gar nicht
verstehen. Fühlt sich nach einem echten Risiko an.
Ich rufe sie an. Sie ist gerade erst aufgestanden. Hm, kein guter Start. Trotzdem lässt sie sich auf das Gespräch ein. Ich versuche ihr so ruhig, wie es mir gelingt, mein Anliegen zu schildern.
Sie geht darauf ein. Hört mir zu. Sagt, was sie so aufgebracht hatte. Ich spüre, wie mich Wärme durchflutet, als ich das höre. Verstehe auch ihre Sicht und habe Mitgefühl. Ich sage ihr das.
Spreche meinen Wunsch an sie aus. Sie sagt, dass sie bereit ist, darauf einzugehen. Freude und Erleichterung in mir. Wir plaudern noch ein bisschen. Mit einem tiefen Atemzug und hüpfendem Herzen
lege ich auf.
Puh! Was für ein Abenteuer!
Naja, ein kleines Stück Lebendigkeit. Ich freue mich, dass ich es mir geschenkt habe.
Was möchtest du dir heute schenken? Wenn du Lust hast, dann schreibe es in die Kommentare.
Ich freue mich von dir zu lesen.
anne
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Renate (Freitag, 07 Januar 2022 11:10)
Liebe Anne, danke für deine herzberührenden Worte. Du beschreibst so wunderbar, was viele, mich eingeschlossen, gerade fühlen und denken. Und dann dieser Kontrast zur Haltung in der Gestalt.
Und ja, genau diese Haltung bewahre ich weiter, auch, um ein lebendiges Vorbild zu sein.